Niederstetten Walter Krüger blieb die Spucke weg, als im August Post aus Florida eintrudelte. Der Inhalt: Eine Einladung zur Geburtstagsfeier nach Florida – zum einhundertsten Geburtstag von Elsie Risch. Risch? Der Name war Krüger sofort vertraut: Natürlich – Elsie Kirchheimer, die vor annähernd einem Jahrhundert, genau am 2. Januar 1916, als der erste Weltkrieg gerade seinem blutigen Höhepunkt entgegentobte, in Niederstetten das Licht der Welt erblickte. 

Krüger hatte sie und ihre zwei Jahre ältere Schwester Rosl 1989 kennengelernt. Auf Einladung aus Bad Mergentheim und Niederstetten hatten sich damals auch etliche ehemalige Niederstettener jüdischen Glaubens auf den Weg gemacht, um trotz aller traurigen Erinnerungen wieder Kontakte in die alten Heimatorte aufzunehmen. Kritische Worte seien seinerzeit kaum gefallen, erinnert sich Walter Krüger: Die Neubegegnungen sollten – das war wohl Wunsch der Gäste wie der Gastgeber – möglichst harmonisch verlaufen. 

 

Krüger hielt anschließend  zumindest losen Kontakt zu den Schwestern: Rosl Kirchheimer war 1934 als 20-jährige zu ihrem Verlobten Shimon Heidelberger nach Israel ausgewandert und betrieb dort mit ihrem aus Mergentheim stammenden Mann eine kleine Farm, Elsie überquerte als 18-jährige den Atlantik. In einem Brief auf Anfrage eines von Walter Krüger initiierten Schulprojekts  beschreibt sie sich als „junges, naives Mädel“, das allein in New  York ankam. „Obwohl ich Englisch im St. Bernhard in Mergentheim gelernt habe, konnte ich nur wenig verstehen“, berichtete sie damals. 1939 heiratete sie Isidore Paul Risch, einen Amerikaner, der „kein Deutsch  sprechen konnte“. Dass sie ihr Deutsch „fast vergessen“ habe, wie sie in diesem nun auch schon über zehn Jahre alten Schreiben behauptet, dementiert Walter Krüger heftig: Ganz prima, berichet er über das jüngste Gespräch mit der Jubilarin, habe er sich mit ihr am Telefon auf Deutsch unterhalten können, obwohl Sohn Joel Risch gewarnt hatte, dass auch altersbedingte Schwerhörigkeit  die Kommunikation erschweren könne. Elsie Risch muss ihrem Sohn regelrecht vorgeschwärmt haben von diesem „most wonderful call from Niederstetten,“ wie Risch umgehend nach Niederstetten zurückmeldete.

Nie und nimmer hatte Walter Krüger damit gerechnet, überhaupt noch einmal von den Kirchheimer-Schwestern zu hören: Von Elsie Risch hatte er lange nichts gehört, und Rosl Heidelberger war Ende 2012 mit 98 Jahren verstorben. 

Die Eltern von Rosl und Elsie Kirchheimer – Cilly Rosenthal Kirchheimer und Max Kirchheimer, hatten in Niederstetten ein Stoffgeschäft geführt und ihren beiden Töchtern eine wundervolle Kindheit ermöglicht. Bevor das sogenannte „Dritte Reich“ seine Schatten auch über das Vorbachstädtchen war, gehörten die jüdischen Niederstettener einfach dazu, berichtete Elsie Risch immer wieder ihrem Sohn. Wenn der Circus in die Stadt kam, versorgte die Familie die Fahrenden mit Strom – und die Töchter durften dafür kostenlos die Vorstellungen besuchen. 

Gemeinsam habe man die jährlichen Festtage gefeiert, ganz egal, ob es sich um evangelische, katholische oder jüdische Feste handelte; auch, wenn die Mädchen schon vor Beginn der NS-Zeit immer mal wieder erlebten, dass ein paar Jungs versuchten, den jüdischen Kindern Schweinefleisch aufzudrängen, gab es wohl zahlreiche Freundschaften auch zu Kindern aus christlichen Häusern. 

Sowohl Rosl als auch Elsie gingen in Mergentheim zur Schule, fühlten sich an der katholischen St. Bernhard-Schule völlig zu Hause; und beide – offensichtlich recht sportlich – zeigten in der TV-Damenriege, was sie konnten, und schlossen sich auch weder beim Schwimmen noch bei Tanzveranstaltungen aus gemeinsamen Vergnügungen der Jugend aus. 

„Und dann kam Hitler“, so Elsie Risch in ihrem Schreiben aus dem Jahr 1995 kurz und bündig. Regelrecht über Nacht habe sich alles verändert: „Wer gestern noch Freund war, ist heute dein Feind geworden“, steht in gestochen klarer Handschrift auf dem Brief an eine damalige Schülerin von Walter Krüger. Ihrem Sohn berichtete sie, dass selbst ehemals beste Freunde plötzlich auf die andere Straßenseite wechselten, und dass sich mancher nicht zu schade war, vor den jüdischen Mitbürgern auszuspucken. 

Eigentlich hatten Rosl und Shimon Heidelberger vorgehabt, die Eltern aus Niederstetten nach Israel zu holen. Es kam nicht mehr dazu: Anfang 1942 wurde Rosl durchs Rote Kreuz benachrichtigt, dass ihre Eltern gemeinsam mit etlichen anderen Juden aus Bad Mergentheim nach Polen deportiert und ermordet wurden. Die beiden Schwestern trafen sich erst 1954 wieder: Zur Bar Mitzwah-Feier von Joel Risch reisten Rosl nach New York, 1970 erfolgte der erste Gegenbesuch von Elsie und Familie in Israel – und natürlich war das Treffen der beiden Schwestern in Bad Mergentheim und Niederstetten 1989, das zum echten Familientreffen wurde, bei dem alte Freundschaften erneuert und neue geschlossen wurden, ein ganz besonderes Erlebnis. 

Die Einladung nach Florida, wohin Elsie Kirchheimer Risch und ihr Mann Paul 1973 aus New York umgezogen waren, zur Feier des 100. Geburtstags hat Walter Krüger tief berührt. Abreißen lassen werde er den Kontakt jetzt ganz gewiss nicht mehr, zumal es dank der mittlerweile gut eingespielten Internet-Verbindung zu Joel Risch viel einfacher geworden ist, in Verbindung zu bleiben. Schade, dass es nicht klappt, persönlich an der Geburtstagsfeier teilzunehmen – aber ganz sicher wird Krüger, selbst heue Geburtstagskind, sein Glas auf die jüdische Freundin jenseits des Atlantiks erheben. Seinen Glückwünschen schließen sich sicher viele Niederstettener und Freunde aus alten und jüngeren Zeiten gern an – und die Redaktion der Fränkischen Nachrichten gratuliert natürlich ebenfalls gern und herzlich. 

 


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