Niederstetten Es ist ein Nachbild, allenfalls, das noch zu zeichnen wäre: Es gibt ihn nicht mehr, den „Hexenbaum auf den Heften“, dem Gottlob Haag in seinem hohenlohischen Tagebuch „Und manchmal krähte der Wetterhahn“ im ersten Kapitel ein Denkmal setzte.
Er ist nicht mehr, der Hexenbaum, zu dem man wallen könnte in der heut' anstehenden Walpurgisnacht: Nicht mehr der alte, die mehrhundertjährige Linde, die kurz nach 1900 ein Blitzschlag traf, so dass sie gefällt werden musste; nicht mehr der junge, die Nachfolgelinde, der eine allenfalls wohl um die siebzigjährige Lebenszeit beschieden war, ehe ihr die Pflugschar näher und näher auf die Borke rückte, bis sie verging.
Doch gibt es Spuren: Gottlob Haag sammelte sie. Mancherlei erzählte ihm sein Großvater vom „Hexentanzplatz auf den Heften“, mancherlei wurde beim „Vorsetz“ gemunkelt, von dem, so Haag, der ehemalige Oberstettener Schullehrer Hans Brucklacher schriftlich Zeugnis gab.
Es rankt sich manche Mär' um den nicht nur in Rauh- und Walpurgisnächten windumtosten Hexentanzplatz auf der Hochebene. So sollen sich Oberstettener Burschen, die einst die Hexen tanzen sehen wollten, gar jämmerlich verlaufen haben im fürchterlichen Sturm auf dieser Fläche, berichtet Haag nach Brucklacher.
Eine Schäfer- und Hexengeschichte, die am „großen Häftenbaum“, wie er in der Niederstettener Flurkarte aus dem Jahr 1996 benannt ist, spielt, hat Haag selbst aufgezeichnet. Und nicht nur das: Mitte der 90er Jahre schlüpfte er beim vom Heimatverein „Steidemer Männle“ jährlich veranstalteten „historischen Stadtspaziergang“ selbst in die Maske des Schäfers, kroch für die Teilnehmer der Wanderung völlig überraschend aus dem beim „Häftenbaum“ aufgestellten Schäferkarren heraus und erzählte die von seinem Großvater wiederholt gehörte Geschichte den Teilnehmern.
„Eine seiner grauslichsten Geschichten ist das,“ schüttelt sich Walter Krüger und liest sie vor aus einem ihm persönlich gewidmeten Band des „Wetterhahns“. Auch da krabbelt ein Schäfer aus dem Karren, aufgestört allerdings nicht durch eine Wanderergruppe, sondern durch kreischendes Hexengelächter. Die wilde Horde entführt, so hat Gottlob Haags Großvater es ihm erzählt, den Schäfer zum Tanzplatz und zwingt ihn, ihnen auf einem Dudelsack zum Hexentanz aufzuspielen, befeuert ihn zusätzlich mit funkelndem Wein. Anderntags soll der von gewaltigem Brummschädel geplagte Schäfer festgestellt haben, dass er wohl auf einem Katzenbalg geblasen haben müsse – und seinen Durst wohl nicht aus funkelndem Pokal, sondern aus einem alten „Brunzgeschirr“ löschte.
Haag hatte immer vermutet, dass dieser Baum eine uralte Geschichte habe – und tatsächlich entdeckte Walter Krüger jüngst eine Spur, die zurückverweist aufs Jahr 1670: Im Neuensteiner Archiv stieß er auf eine „Augenscheinkarte“, die dicht am linken - dem nördlichen - Rand an genau der Stelle, wo der „große Häftenbaum“ auf der aus dem Jahr 1996 datierten Niederstettener Flurkarte zu finden ist, einen „Drudtenbaum“ ausweist. „Drudt“, „Drute“, „Trude“ - man denke nur an die Märchengestalt der „Regentrude“ von Theodor Storm - ist ein uraltes, wohl aus dem Keltischen überkommenes Wort, das auf die magischen Mächte verweist, die andere Sprachfamilien Hexen zusprachen.
„Augenscheinkarten“ nun sind nicht irgendein Phantasieprodukt, sondern ernst zu nehmende Geschichtsdokumente. Sie wurden vor der Einführung kartographischer Vermessungstechniken nach dem Augenscheine zur gerichtstauglichen Feststellung von Jagdgrenzen, Besitzverhältnissen, vielleicht auch zur Klärung von Tatorten nach Missetaten gefertigt.
„Bei dieser wohl von Schrozberg vorgelegten Augenscheinkarte dürfte es um Gebietsansprüche gegangen sein“, vermutet Walter Krüger, dem Mitglieder des Niederstettener Heimatvereins „Steidemer Männle“ eine Kopie der alten Karte verehrten. Die ist noch nicht nach Norden ausgerichtet, sondern gen Osten, wo gebildete Europäer seinerzeit Ursprung und Ziel mutmaßten: nach Jerusalem.
Man zeichnete nach dem, was man so sah, wenn man den Blick etwa von einer Anhöhe auf ein nahe gelegenes Tal oder den gegenüberliegenden Hang richtete, vermerkte säuberlich weit sichtbare und zumeist gut bekannte Landmarken. Einfach ein Baum auf der Höhe hätte wohl kaum Aufnahme gefunden in ein derartiges Dokument; ein Baum dagegen mit Tradition, Geschichte, ein „heiliger“ gar, das ist durchaus erwartbar.
Und in der Tat: Der Baum, der ganz besondere, behielt seine Sonderstellung lange. Kaum verkäuflich war das Holz des durch einen Blitz geschädigten Baumes noch vor rund hundert Jahren. Mögliche Kaufinteressenten fürchteten, dass es die Öfen zerreißen würde, sollte man's wagen, das Hexenbaumholz ganz profan zum Heizen, Kochen und Backen zu nutzen, berichtet Gottlob Haag.
Dass Ort und Baum auch vor rund zwei Jahrzehnten noch Wertschätzung erfuhren, dokumentiert der Grunddienstbarkeitseintag von 1996, als im Rahmen der Flurneuordnung die „Häftenteile“ - altes Allmendgebiet, wie Krüger erläutert - neu zugeschnitten wurden. Dort sicherte sich die Stadt ein drei Meter breites „Geh- und Fahrlast“-Weglein mit dem Recht, „dieses Grundstück zur Hege und Pflege des sogenannten 'großen Häftenbaums' zu betreten und zu befahren.“ Ein Versäumnis, dass keine „Ausmarkung“ erfolgte, die den Baum hätte schützen können.
Schön wär's gewesen: Schließlich besangen vor Gottlob Haag schon etliche Dichter die aus grauer Vorzeit überkommenen Baumheiligtämer – Friedrich Schiller etwa im Prolog seiner „Jungfrau von Orleans“. Dass er dabei den „Drudenbaum“ zum „Druidenbaume“ machte, unter dem Johannas Veter Thibaut d'Arc sein Töchterlein allzuoft sinnierend sitzen sah, sei dem Dichter nachgesehen: Es kam recht häufig vor, dass ob des Gleichklangs von „Drude“ und Druide“ - hie Hexe oder Zauberin, da der gallische Weise und spirituelle Führer – durcheinander gerieten, wie etwa der Sprach- und Volkskundler Karl Gustaf Andresen und andere bereits um 1880 nachgewiesen haben.
Wie auch immer: Einen Hexentanz wird man auf den Häften schwerlich noch erleben können – wohl nicht einmal dann, wenn eines Tages eine Nachfolgerin der Linde gepflanzt werden sollte.