Bad Mergentheim Überall in den Fluren des Caritas-Krankenhauses kann man Schwester Roswitha begegnen: Die 90-jährige Deutschordens-Schwester fühlt sich „ihrem“ Haus und „ihren“ Patienten seit mittlerweile 67 Lebensjahren eng verbunden. 1949 kam sie nach Bad Mergentheim, gehörte zum allerersten Jahrgang, der in der frisch gegründeten Krankenpflegeschule des Hauses die Ausbildung als Krankenschwester einzog. Neun dieser ersten „Azubis“ im Caritas-Krankenhaus   waren Deutschordensschwestern, die sich  gemeinsam mit rund einem Dutzend freier Schwestern auf die anspruchsvolle Aufgabe im Dienst Kranker vorbereiteten.


    Für die in Mähren aufgewachsene Roswitha Hirth war das genau ihr Feld: „Helfen und Heilen, das war bei mir schon immer da“, erzählt sie der Berichterstatterin. Sie redet nicht gern über sich, über ihre Leistungen schon gar nicht. Nur, dass ihr bereits seit ihrer Erstkommunion an einem „ganz wunderbaren Tag, alles blühte!“ klar war, dass ihr Ziel „Helfen und Heilen“, und zwar als Ordensfrau, sein würde. Bereits als 15-jährige meldete sich die damalige Gewerbefachschülerin bei den Pflegeschwestern an.
    Tief gläubig ist die zierliche Nonne, die es sich auch im hohen Alter nicht nehmen lässt, Patientinnen und Patienten zu besuchen, ihnen zu Geburtstagen zu gratulieren, im seelsorgerlichen Gespräch zu begleiten oder die Kommunion zu spenden. Gern fischt sie – auch im kurzen Gespräch auf Krankenhausfluren - aus ihrer Ordenstracht  einen Pfadfinder-Rosenkranz. Sie verschenkt sie; denn manchmal, das glaubt sie nicht nur, sondern das weiß sie, helfe in Angst und seelischer Not, in die Menschen durch schwere Krankheit und Sorge hineingeworfen werden können, bereits der Versuch, ein Gebet zu sprechen.
    Ihr selbst hat es auch geholfen. An wen auch als an ihren Herrgott hätte sich die Jüngste des im Schöningsgau bei Zwittau auf einem Hof aufgewachsenen 19-jährige wenden können, als russische Soldaten am 9. Mai 1945 ihr Dorf Runarz eroberten? Der Vater war ein Jahr zuvor an Lungenkrebs gestorben, der Bruder war in Gefangenschaft, die ältere Schwester als Krankenschwester in Jena. Gerade noch rechtzeitig hatte die Mutter sie und andere Mädchen auf den Dachboden geschickt. Im Versteck zwischen Ziegeln und Brettern klopften die Herzen so laut, dass sie die ganze Nacht hindurch fürchteten, allein ihr Herzklopfen würde sie verraten. Was tut man da? Beten. Trotzdem hatten sie riesige Angst – begründet, wie morgens die über Nacht schlohweiß gewordene Mutter berichtete: Die Soldaten hatten ihr mit der Pistole an der Schläfe zu entlocken versucht, wo sich die Mädchen versteckt hatten. „Wir hatten schon gute Schutzengel“, sagt die 90-jährige rückblickend.
    16 Monate später brachen sie auf, gelangten auf Lastwagen und in Viehwaggons über Lager in Olmütz und Prag nach Bayreuth: Ans Aufatmen an der Grenze, als keine Gefahr mehr drohte, nach Sibirien gebracht zu werden, erinnert sie sich auch nach sieben Jahrzehnten noch: „An der Grenze sangen wir 'Großer Gott' als Dank dafür, dass wir frei sein würden.“
    Im Passauer St. Nikola-Kloster, das im August 1946 mit Konvent und Noviziat neue Heimat der  aus Böhmen und Mähren vertriebenen Deutschordensschwestern wurde, fand Roswitha Hirth   1947 ihre geistige Heimat. Nach dem Zweiten Weltkrig wurde das bereits um 1070 gegründete ehemalige Augustiner-Chorherrenstift, das Napoleon ab 1806 als Militärhospital, bald auch als Kaserne beanspruchte – die Kirche diente als Lagerhalle für militärisches Gerät – als Flüchtlingslager genutzt. Mitten unter den wie sie selbst Entwurzelten  absolvierte Roswitha Hirth ihr Noviziat, legte 1949 freudig die Ordensprofess, ab.   Die  Freudigkeit blieb. Gern folgte sie gerade mal zwei Wochen nach Ablegung dieses Gelübdes dem Ruf nach Bad Mergentheim, und voller Freude ließ sie sich auf die Arbeit in der Kinderstation in den Räumlichkeiten der ehemaligen Mergentheimer   Kaserne  ein. Rund 100 Mädchen und fast ebenso viele Jungen waren in der Station im dritten Stockwerk untergebracht, die Kleinen in Räumen mit bis zu 14 Bettchen. Ohne Aufzug und fließendes Wasser auf der Etage war es für die angehenden Krankenschwestern eine enorme Herausforderung, nach der täglichen Krankenpflege das Putzwasser eimerweise auf die Station zu schleppen, ehe sie mit der zusätzlichen Putz- und Wascharbeit beginnen konnten. Begeistert begrüßte Schwester Roswitha jeden Modernisierungsschritt: Echte Feiertage seien es gewesen, als die Station mit neuen Betten ausgestattet wurde oder wenn alte Matratzen  durch neue ersetzt wurden. Gut erinnert sie sich noch an die Zeit, als das Krankenhaus im Hof über 100 Schweine hielt, um die nach dem Krieg oft noch sehr geschwächten Patienten mit gutem Essen zu versorgen. Die von Anfang an gute Küche versüßte auch den Kindern TBC-bedingte lange Krankenhausaufenthalte.
    Sie begleitete und pflegte, Patienten auf unterschiedlichsten Stationen, arbeitete im Bereich Internistik, Orthopädie, Urologie und leitete ab 1965 zwei Jahrzehnte lang als Stationsschwester die Pflege der Privatstation. Aufmerksam verfolgte sie jede Entwicklung, erinnert sich nochgut an die erste Herzoperation im Haus, an die Einführung von Tlemetrie und Sonografie: „Alles, was den Patienten hilft, ist gut,“ lobt sie die Entwicklungen. Diese Grundeinstellung und das Wissen, dass neben dem Glauben auch der Humor eine wichtige Rolle für Patienten und Mitarbeiter spielt, hat sie auch späteren Krankenpflege-Schülern mitgegeben.
    Mitgegeben hat sie ihnen auch, dass manchmal, wenn die medizin einfach nicht mehr helfen kann, das Gehen lassen wichtig ist. Sie selbst fand nach über 40 Jahren im direkten Dienst an den Patienten, als sie eigentlich in den Ruhestand hätte wechseln können, in der Begleitung Schwerkranker, Sterbender und Angehöriger eine neue Aufgabe, eine, die sie als „segensreichste Zeit“ empfindet. Manchmal spürte sie nachts: Jetzt ist es Zeit. Dann war sie zur Stelle, und für sie sei es immer eine Gnade gewesen, das letzte auf dieser Welt sichtbare Aufstrahlen der Seele mitzuerleben.
     Über all die Jahre sei das Gebet ihre „Tankstelle“ gewesen. „Das Gebet ist eine Macht“, sagt sie, und meint damit sowohl die Fürbitte für Anvertraute als auch die eigene Bitte um Kraft. Ihre gläubige Heiterkeit,  die schon in viele Krankenzimmer ein paar Sonnenstrahlen getragen hat, dürfte sie auch aus dieser Quelle beziehen. Ihre am Tag der Erstkommunion erlebte Berufung und dass sie ihr folgte, hat Schwester Roswitha Hirth „nie, niemals!“ bereut.

(Erstveröffentlichung: Fränkische Nachrichten vom 22.10.2016, Rubrik "Land und Leute")


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